Die Einrichtung war tadellos. Hochmodern und neu. Anders stand es um den Mann. Herr Poelchau war so weiß wie seine Laken. Seine Augen blutrot unterlaufen. Er sah aus wie ein verhungernder Vampir, der pestatmig in einer dunklen Kammer vertrocknete. Anna riss die Gardinen zurück und das einzige Fenster im Raum auf, woraufhin der Alte blinzelte und leise röchelte. Johann nahm seinen Hut ab. Es war ihm höchst unangenehm, hier zu sein. Zum einen war es erschreckend, zu sehen, wie der alte Poelchau abgebaut hatte, seit er sich damals auf der Straße für ihn eingesetzt hatte. Zum anderen war Johanns Anwesenheit alles andere als passend. Er hatte hier nichts verloren, hier, in diesem intimen Bereich der Unternehmerfamilie, wo er ein Außenseiter war, ein Eindringling, der aus Gründen, die er selbst nicht kannte, durch die Vordertür herein gelassen worden war. Unmittelbar drängte sich ihm das Gefühl eines Mannes auf, der zu viel gesehen hatte. Der in etwas reingeriet, aus dem es kein Entkommen gab. Eine Sekunde bäumte sich in ihm die Überlegung auf, rückwärts aus dem Raum zu fliehen. Aber der alte Poelchau richtete bereits die Augen auf ihn. Was darin weiß hätte sein sollen, hatte einen ungesunden Gelbstich.
„Guten Abend, junger Mann“, grüßte der Alte mit kurzem Atem. Er keuchte mehr als dass er sprach. Seine Anstrengung bei den kürzesten Sätzen war deutlich zu hören.
„Guten Abend.“
Der Greis blinzelte unablässig zu ihm rüber. Vielleicht sah er schlecht. Trotz der bedrückenden Stimmung im Raum, die ihn in die andere Richtung zog, ging Johann näher zum Bett. Anna setzte sich auf die linke Bettseite, um die Hand ihres Vaters zu halten, der es geschehen ließ, aber mit ihm, dem Gast, sprach.
„Meine Tochter hält es für wichtig, dass Ich Sie kennenlerne, Herr…“
„Zimmer, Johann.“
„Ahja.“ Der alte Poelchau hustete. „Schriftsteller sind Sie, sagte sie. Und Kritiker.“
„Ich schreibe Rezensionen. Theater.“
Was für ein seltsames Gespräch. Es hatte etwas ganz Falsches. So, wie es falsch war, dass Anna hier war. Wenn es eine Frau gab, deren Vater er kennenlernen wollte, so war es nicht sie. Dazu kamen die bizarren Umstände, unter denen das Treffen stattfand…
„Theater.“ Wieder hustete Herr Poelchau. „Sind Sie aus der Stadt? Ich kenne einen Friedrich Zimmer…“
„Nicht verwandt“, sagte Johann sofort. Er wurde in guten Gesellschaften häufiger nach einem Notar namens Friedrich Zimmer gefragt, manchmal mehrfach von den gleichen Personen. Die Leute konnten sich nicht damit abfinden, dass er keine Herkunft hatte, so gesehen ein Niemand war.
„Natürlich hast du eine Herkunft“, hatte Jovar ihm einmal gesagt. „Du kannst dich nur nicht, wie andere Leute, auf den Lorbeeren deiner Eltern ausruhen. Leute, die beides gleichsetzen, sind Idioten. Was interessiert dich ihre Meinung?“
„Wissen Sie, warum Sie hier sind?“, fragte der alte Poelchau. Gleich darauf sank sein Kopf unter Stöhnen in die Kissen.
„Ehrlich gesagt…“
„Weil Sie Kritiker sind.“ Er hatte den Kopf wieder hochgestemmt. Ein Blick, der unter anderen Umständen inspizierend gewesen wäre, drang Johann entgegen, verlor aber auf halbem Weg die Schärfe. Er wusste nicht, worauf der Alte hinaus wollte. Es konnte unmöglich um Theater gehen.
„Ich…“
„Sie wollen nicht mit meinem Sohn zusammenarbeiten. Er hat Ihnen Arbeit angeboten. Anna sagte mir, dass Sie ablehnen werden.“
Unter ihrem geflochtenen Zopf sah Anna Poelchau Johann ohne Schuldgefühl entgegen.
„Das stimmt. Ich dachte, ich wäre hier, um genau das zu tun. Allerdings…“
„Sie halten wohl nichts vom Geschäft mit dem Wunsch.“ Der alte Poelchau mochte krank sein. Nichtsdestotrotz verstand er es wie kein Zweiter, anderen das Wort abzuschneiden. Es störte Johann. Er sagte nichts, weil er, auch wenn es blödsinnig war, mehr Geduld für kranke Menschen aufbrachte als für gesunde.
„Ich weiß, dass Ihre Familie sich sehr für diese Art von Geschäft interessiert…“
„Sie wissen gar nichts.“ Diesmal war es Anna, die ihm harsch ins Wort fuhr.
Johann zuckte zusammen. Sie starrte ihn an, ohne einen Muskel zu bewegen.
„Aber mir wurde-„
„Bestimmt viel an Gerüchten zugetragen“, hustete der alte Poelchau. „Denn wir sind immer für ein Schwätzchen gut, nicht wahr?“
Ausnahmsweise war Johann froh über die Unterbrechung des Kranken. Er hätte fast, ohne es zu wollen, seinen Freund, den Arzt, verraten. Sein Schweigen war dem alten Poelchau Bestätigung genug. Anna verzog noch immer keine Miene.
„Sie müssen wissen, Herr Zimmer – ich bin Geschäftsmann. Natürlich interessiert mich zuerst einmal alles, was neu auf den Markt kommt. Es wäre unverantwortlich, sich nicht wenigstens zu informieren.“
„Bei allem Respekt“, entgegnete Johann. „Was Ihre Familie vorhat, geht doch ein bisschen übers Informieren hinaus.“
„Sie wissen scheinbar genau Bescheid.“ Poelchau hustete. Da war eine Brüskierung, etwas Aufmüpfiges in seinem Gerassel. „Dann sagen Sie mal: Was haben wir denn vor?“
„Vielleicht hätte ich nicht sagen sollen: Ihre Familie“, räumte Johann ein. „Vielleicht hätte ich sagen sollen: Ihr Sohn. Was er mir beschrieben hat, klang mir sehr nach Geschäft. Und ziemlich gezielt. Entschuldigen Sie, ich weiß nicht, was er mit Ihnen besprochen hat und möchte ihm nichts vorweg nehmen.“
„Sie meinen einen Untergrundhandel.“ Der alte Mann drehte den Kopf erschöpft im Kissen. Er hatte die Gelassenheit der Dahinsiechenden, nichts Beneidenswertes, aber angenehmer als sein hustendes Gepolter. Da war ein Rest Schroffheit in seinen Augen, gelb und krank, im einen Moment deutlich, im nächsten nach innen verdreht. Anna stand vom Bett auf und schloss das Fenster. Anstatt danach zum Bett ihres Vaters zurückzukehren, stellte sie sich wie ein Wächter neben Johann.