Auf einem Klassentreffen vor einigen Jahren sagte meine Grundschullehrerin etwas zu mir. Sie hatte gerade erfahren, dass ich mein Abitur als Jahrgangsbester bestanden hatte. Sie sagte: „Es ist schön, zu sehen, dass es auch Spätzünder gibt.“

lesendZuerst einmal war es natürlich interessant zu erleben, wie einem die Klassenlehrerin auch 15 Jahre später noch mit einer einzigen Phrase ganz unmittelbar das Gefühl geben konnte, ein absoluter Vollidiot zu sein. Davon abgesehen hatte sie allerdings meine Gedanken angestoßen. Ich vergaß ihren Satz nicht, im Gegenteil, ich drehte ihn in alle Richtungen. Ich fühlte ihm auf den Zahn, bis er ganz abgegriffen war.
„Spätzünder hat die mich genannt“, konsultierte ich meine beste Freundin.
„Jah.“ Die Antwort lag schwer auf ihrer Zunge, sie wollte ihr gar nicht aus dem Mund kommen. Vielleicht wusste sie beim hunderfünfzigsten Mal einfach nicht mehr, was sie mir noch Innovatives hätte zurückgeben können. Aber ich merkte, dass es sich bei dem Satz meiner Lehrerin um eine Ungerechtigkeit gehandelt hatte, die über die flüchtige Scham eines kleinen Faux-Pas hinausging, das war keine Kleinigkeit mehr. Es war eine formelle Kriegserklärung an mein Selbstverständnis. Ich übertrieb vielleicht, wenn ich es mit dem Fehdehandschuh ins Gesicht meiner Würde verglich, aber das konnte sie doch nicht ohne bitterböse Hintergedanken gesagt haben, sowas sagte man doch nicht einfach so daher!

„Die muss sich doch irgendetwas dabei gedacht haben!“
„Vielleicht hat sie dich ja verwechselt.“

Es war natürlich leicht, von einer Verwechslung auszugehen, wenn man nicht der Geschädigte war. Für mich, der ich längst zerfressen war von den Zähnen des Argwohns, vom Selbstzweifel der Erkenntnislosen, dem Hin-und-Her-Schwanken zwischen Arroganz und Nervenzusammenbruch, war es unmöglich, mich mit halbgaren Ausflüchten ruhig zu stellen. Die hatte mich doch im Leben nicht verwechselt. Die wusste ganz genau, wem sie da den Giftdorn ihrer falschen Anteilnahme ins Fleisch gerammt hatte!
Aber warum? Warum?
Ich goss mir einen Drink ein und ließ mein Leben Revue passieren.
Ich sollte also ein Spätzünder sein. Warum?
Der Blick in den Rückspiegel meiner Entwicklung war wie barfuß im Nebel zu waten. Ich tastete halbblind herum und hoffte, auf nichts Ekliges zu treten.
Ich erinnerte mich daran, dass ich mit acht Jahren zum ersten Mal geraucht hatte, angestiftet von meinen Cousinen. Ich hatte aber gleich wieder aufgehört, um zuerst etwas Lebenserfahrung zu sammeln. Mit elf hatte ich dann wieder angefangen.
Ich war aber kein boshaftes oder verkommenes Kind gewesen. Eher eine abstruse Erscheinung; in der einen Hand die Kippe, in der anderen den Legohubschrauber war ich da gestanden in meinem Power-Rangers-Pullover und hatte mich geweigert, mir den Pony schneiden zu lassen. Manchmal hatte ich im Unterricht angefangen zu singen, weil ich mich gelangweilt hatte und abgelenkt gewesen war, solche Dinge waren mir damals aber nicht richtig bewusst gewesen. Ich war die Art von Kind gewesen, die in den Wald ging, um das letzte Einhorn zu suchen und niemals wusste, was es zu Gleichaltrigen sagen sollte. Aber war ich deshalb ein Spätzünder?
Ich meine, meine erste Freundin hatte ich mit dreizehn, genau wie meine erste Alkoholvergiftung, meine zweite Freundin mit sechzehn, die war dafür doppelt so alt wie ich. Vielleicht war DIE ein Spätzünder, aber ICH doch nicht!

 

Ein Spätzünder, warum SPÄT? Dauerte bei mir alles länger? Oder unterschied es sich einfach?
Im Hinblick auf mein gesamtes Dasein gab es vielleicht schon ein paar Dinge, die ich anders machte als andere, auch heute noch. Ich hatte ein paar komische Angewohnheiten, zum Beispiel die, mir, wenn ich betrunken war, etwas zu Essen zu kaufen, dann eine Diskussion zu beginnen und im Eifer des Gefechts vor Wut und Hingabe mein Essen – in einem Akt der Gerechtigkeit – über die Brücke zu werfen. Da fiel einem erst auf, wo eigentlich überall Brücken waren. Ich wusste natürlich von dieser Unart, und trotzdem hielt ich mich weder von Vodka noch von Dönerläden noch von Brücken fern. Aber war ich deshalb jetzt Spätzünder?
Ich war, was den Umgang mit meinen Emotionen betraf, vielleicht immer eine Spur ausdrücklicher.
„Du bist unglaublich theatralisch“, behauptete meine beste Freundin zu meiner Empörung.
„Ich nenne das sinnlich und gefühlsbetont!“
„Jah. Das kann schon sein. Aber Fakt ist, dass keine alte Sau außer dir es so nennt. Die meisten anderen sagen theatralisch.“
„Die meisten anderen sind nicht alle!“
„Der Rest sagt pathetisch.“
„…ich nenne das sinnlich und gefühlsbetont!“
Manchmal, wenn ich keine fundierten Argumente vorzuweisen hatte, fiel ich darauf zurück, einfach den selben Satz noch einmal zu wiederholen und ihn inbrünstiger zu betonen.
„Du lebst ein Leben ohne Logik“, sagte meine beste Freundin. „Man kann nicht einfach für alles eigene Regeln erfinden. Das ist wie mit dem Kaffee!

Das mit dem Kaffee war so eine Sache. Ich war, was meine Werte anging, stets sehr freigiebig. Ich sparte lieber an den materiellen Dingen. Ab und zu schleuderte mich das direkt in den nächsten Konflikt. So war es auch mit dem Kaffee.

Ich mochte keinen Instant-Coffee, weil ich dabei immer an warmes, abgestandenes Brausepulver denken musste. Schlimmer hätte es eigentlich nur sein können, wenn es nach Waldmeister geschmeckt hätte. Aber ich hatte kein Geld für Kaffeepulver, wenn ich ehrlich war. Wenn ich ehrlich war, vertrat ich die Ansicht, dass man niemals uneingeschränkt ehrlich sein konnte, darum kaufte ich mir das Pulver trotzdem. Ich hatte meine eigene Regel der Sparsamkeit:
Ich schichtete zwei große Löffel pro Tasse in den Filter und ließ ihn dann vierzehn bis neunzehn Tage lang immer wieder durchlaufen. Die ersten paar Tage ging ich mit den Füßen an der Decke, nach zwei Wochen trank ich braunes Wasser – so kam ich auf ein stimmiges Durchschnittsergebnis. Meine beste Freundin konnte dieser Bilanz nichts abgewinnen.

Aber vielleicht war das der Punkt? Was war denn überhaupt ein Spätzünder? Laut des Dudens: Jemand, der nicht so schnell begriff und Zusammenhänge später erkannte. Ein Spätentwickler. Aber musste das sein? Sprachen wir hier ausschließlich und gezwungenermaßen von einem Spätentwickler? Konnte es nicht auch einen Anders-Entwickler geben? Jemanden, der sich nicht linear und zeitgleich mit seinen Alterskameraden mitbewegte, sondern sich umsah um festzustellen, was abseits des plattgetretenen Weges existierte und vielleicht einen ganz selten benutzten Pfad fand, der ihn letztendlich zum selben Punkt führte. Er kam vielleicht nicht später an und hatte sich deshalb nicht zwingend als Nachzügler dahin entwickelt. Die Strecke, die er genommen hatte, musste keine Landstraße gewesen sein.
„Das ist es was mich so stört“, sagte ich zu meiner besten Freundin. „Das einem von klein auf so ein Denken von richtig und falsch angeordnet wird und dann wird diagnostiziert. So als könnten wir alle nur innerhalb einer Schablone vorhanden sein. Das richtet sich wieder nach einer Wahrheit, die sich einzig und allein nach der Mehrheit orientiert. Es ist eigentlich kein Wunder, dass ich nie in die Schule gegangen bin, ich habe wahrscheinlich schon damals geahnt, dass die mich nur zurück ins Raster bringen wollen. Wer sagt denn, dass ich spät gezündet habe? Nur weil ich nicht genau dann zünde, wann DIE es von mir erwarten? Welches Recht hat die Frau oder irgendjemand sonst eigentlich, über meine Kindheit zu werten oder über meine Person oder darüber, wie mein Weltverständnis aussieht?“
Meine beste Freundin sah mich lange an. Ich bekam durch den Schleier meines Ärgers mit, wie sie nach meinem Drink griff und ihn schwunglos austrank.
„Vielleicht hat sie das auch gesagt, weil du dein Abi über den zweiten Bildungsweg gemacht hast“, sagte sie.
Ich runzelte meine Stirn.
„Achso…“

2 Gedanken zu “Spätzünder

  1. Ratlosigkeit wie man sich über den Fakt Spätzünder zu sein so auslassen kann in weiten Strecken des Textes. Ich war selbst auch einer. Meine Sichtweise: Wer später alt wird ist länger jung. Ich mochte es jung zu sein und mag es immernoch. Spät Zündung, voll das Geschenk.

    Das Ende hat es dann aufgeklärt. Danke auch einen so lange im Wartezimmer der Verständnislosigkeit tappen zu lassen 😀 schöner Twist

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