Er war die Treppe noch nicht zur Hälfte unten, als jemand ihn von hinten anrempelte. Überrascht drehte er sich um und begegnete einem gehetzten Männergesicht mit fleischigen Lippen und einer Nase, die aussah, als wäre sie mehrfach gebrochen gewesen und schief wieder zusammengewachsen. Der Mann war außer Atem. War er ihm nachgelaufen?
„Ihr Hut stammt wohl noch aus anderen Zeiten?“, sprach der Fremde Johann an, wobei er ihn überholte.
Johann blieb auf der Stufe stehen, vor den Kopf gestoßen, zur anderen Hälfte argwöhnisch belustigt.
„Was geht Sie das an?“, entgegnete er, aber sowie sich die Miene des Fleischgesichtes auf eine Weise verfinsterte, die über Kränkung hinausging, fügte er erschrocken hinzu: „Immerhin sollten Sie sich nur für reife Äpfel interessieren. Besonders im Abendrot.“
Ein Moment der Anspannung stand zwischen ihnen. Er war unendlich lang. Der Mann mit der gebrochenen Nase fixierte Johann brütend. Dann hob er die Faust.
„Ich habe auch gegen gute alte Melonen nichts einzuwenden“, behauptete er und schmetterte seine Faust kameradschaftlich gegen Johanns Schulter. Er musste am Treppengeländer Halt suchen, damit der Schlag ihn nicht umwarf. Er lachte noch erzwungen, als der Fremde die Treppe wieder hoch ging, obwohl es gerade noch so ausgesehen hatte, als wolle er schnell nach unten.
„Das war es also“, dachte Johann, während er sich die schmerzende Schulter rieb.
Wenn du angesprochen wirst, antworte etwas, irgendetwas, aber ergib keinen Sinn.
Um ein Haar hätte er die Losung am Eingang verpfuscht. Für kurze Zeit war sein Rausschmiss beängstigend greifbar gewesen. Und er wäre umso heftiger gewesen, weil der Aufpasser offenbar seine Stellung verlassen hatte. Er hatte ihn erst wieder einholen müssen. Es war nicht Johanns Schuld gewesen, aber wäre er erwischt worden, er hätte nichtsdestotrotz umso mehr nach einem Eindringling ausgesehen. Er spürte kurzen Ärger über Anna in sich aufsteigen. Warum hatte sie ihn nicht besser gewarnt? Wäre es so schwer gewesen, ihre Nachricht mit einem einfachen Satz zu erläutern? Fast wäre alles schief gegangen. Doch er hatte es geschafft. Er war bis in Poelchaus laute, hitzige Hölle vorgedrungen, und was er sah, nahm ihn gleichzeitig gefangen und schockierte ihn unvorstellbar.
Es ging schlimmer zu als auf dem Viehmarkt. Schwitzende Leiber stießen sich gegenseitig aus dem Weg, Frauen standen mit gereckten Hälsen auf den Tischen, Männer rissen ihre Hände, Kopfbedeckungen oder Geldscheine in die Höhe, überboten, überschrien und bekämpften sich. Und über ihnen allen, hinter einem Podest auf einer Empore an der Stirnseite der Halle, ragte ein großer Mann mit völlig lachhafter Perücke auf. Seine breiten Schläfen glänzten im gelben Licht. Generell waren seine Züge sehr breit und gerade. Er hatte mehr von einem Bandenanführer als von einem Richter, daran konnten auch sein albernes Kunsthaar und der Hammer, den er hielt, nichts ändern. Johann erkannte ihn. Das war Heinrich Purnhagen, ein Freund von Poelchau, dem drei oder vier Häuser im wohlhabenden Stadtnorden gehörten. Purnhagen und Poelchau waren ein gemeingefährliches Duo, zwei skrupellose Narzissten, die einen Menschen nur nach den Vorteilen bewerteten, die es ihnen einbrachte, ihn zu kennen. Johann hatte die ein oder andere abendliche Zusammenkunft der beiden beobachtet, wenn sie sich betranken und vergaßen, dass sie erwachsene Männer waren. Sie benahmen sich auf unmögliche Weise, die andere ruiniert hätte, nur konnten sie es sich erlauben. Sie waren mächtig genug. Wer in der Welt von Kultur und Klasse herrschte, bestimmte die Regeln, war aber nicht zwingend daran gebunden. Der kindlich spottende Heinrich Purnhagen, der säuselnd im Arm seines Freundes hing, war als Vorstellung ähnlich lächerlich wie das Bild, das er mit seiner Lockenperücke abgab, allerdings war der Mann hier und jetzt todernst. Er setzte sich mit ein paar Hammerschlägen, mit gehobenem Kinn und ein paar gezielten Rufen über den Lärm der Bieter hinweg, als verträte er das leichteste Geschäft überhaupt.
„Zunächst“, rief er jedesmal, wenn er etwas Neues feilbot. Dann formulierte er einen Wunsch und die Hände schossen hoch, boten viel oder wenig. Johann konnte nicht sagen was viel war und was wenig. In solchen Kategorien konnte man Wünsche nicht messen. Vor allem nicht, wenn sie lose, ohne Eigentümer im Raum hingen. Johann verdrehte den Hals und suchte. Von Fritz Poelchau keine Spur.
„Zunächst“, rief Purnhagen, stach sein Kinn in die Luft und hob den Hammer, als ob er schon wüsste, dass der nächste Handel schnell über den Tisch ginge. „Der Wunsch, eine lebendige Frau zu haben.“
Ein Geäst von Händen schoss aufwärts und zwischen diese kahlen Bäume aus Fingern wurden Zahlen gerufen. Johann glotzte begriffsstutzig auf zwei Herren in neuartiger Kleidung, die sich gegenseitig hochboten. Einer von ihnen gab ziemlich schnell auf und zuckte die Achseln.
„Die nächste Runde gehört mir“, tröstete er sich und seine Umgebung. Er überließ dem anderen den Wunsch für einen Preis, der weit unter vielen lag, die vorher für andere Wünsche geboten worden waren. Purnhagens Hammer knallte dreimal aufs Pult.
„Verkauft für Hundertfünfzig“, schnarrte er.
Vorbeigehende Leute stießen Johann an, der versteinert auf der Stelle stand.
„Zunächst“, rief vorn Purnhagen.
Den Rest verstand er nicht. Er zwängte sich fremdgesteuert an einigen Spekulanten vorbei, von deren Gespräch er ebenfalls nichts verstand. Der Wunsch, eine lebendige Frau zu haben. Johanns Hand streckte sich vor seinen eigenen Augen nach dem Arm desjenigen Mannes, der gerade die Auktion für sich entschieden hatte. Der andere drehte sich um. Er hatte sehr junge Augen, blond gewelltes Haar und einen dünnen Oberlippenbart. Hätte er diesen Bart nicht gehabt, er hätte ausgesehen wie ein Kind.
„Eine lebendige Frau, was hat das zu bedeuten?“, hörte Johann sich fragen. Er klang höflich, dabei ging eigentlich anderes in ihm vor, er konnte es nur nicht einordnen.
„Sind Sie neu hier?“ Der junge Herr klang feinsinnig, sehr geckenhaft, aber er erwies sich als auskunftsfreudig. „Das war ein Schnäppchen! So geht das hier ständig. Kurzes Glück.“
„Kurzes Glück?“ Johann wiederholte mit starren Zügen ausschließlich das, was der andere vorher gesagt hatte. Damit er nicht nur dastand und sein Gegenüber anstarrte, nahm er den Hut ab und strich sich über den Kopf.
„Kein großer Wunsch. Unmittelbare Zufriedenheit.“ Als der junge Herr Johanns Blick sah, furchte er die Stirn und hielt ihn wahrscheinlich für stumpfsinnig. Er schnalzte mit der Zunge und rief: „Meine Frau ist am Leben! Bei bester Gesundheit. Zack! Wunsch erfüllt.“
Der Ekel, der Johann überkam, kam nicht überraschend. Er hatte sich angeschlichen, und jetzt, wo sich seine Befürchtung bewahrheitet hatte, breitete er sich aus wie eine Krankheit, die man kommen spürte, ohne sie aufhalten zu können.
Der junge Herr kämpfte sich zum Podest durch, um sein Geschäft abzuschließen. Johann blieb in der unruhigen Menge zurück und traute sich nicht, seinen Gedanken zu Ende zu denken. Aber wie sein Ekel und wie eine Krankheit, war auch sein Denken unaufhaltsam. Selbst wenn er sich dagegen wehrte, führte sich der Gedanke, der ihn in den Krallen hatte, von selbst fort. Der Wunsch nach einer lebendigen Frau. Wenn es in dieser heillos befallenen, von der Moral verlassenen Stadt auch tausende von Menschen gab, kannte Johann doch mindestens einen, dessen größter und qualvollster Wunsch es war, dass seine Frau noch am Leben wäre.
„Nein“, sagte sich Johann borniert. Er weigerte sich, zu glauben, dass Lothar Olbers so etwas täte. Er würde Hilenas Andenken nicht auf diese Art beschmutzen. Die niederschmetternde Wahrheit war, dass Johann sich nicht mehr sicher war. Er redete sich ein, dass sein Freund der Arzt über diesen Dingen stand, aber im Geheimen glaubte er, es besser zu wissen. Der Wunsch nach Hilena war Dr. Olbers‘ Ausdruck für ihr gesamtes gemeinsam verbrachtes Leben gewesen. Für seine Liebe zu ihr. Konnte das wirklich sein? Konnte es sein, dass er sich dadurch Erleichterung verschafft hatte, das einzige wegzugeben, was in seinem Leben noch Gewicht hatte? Stand es wirklich so schlecht um sie alle, dass dies geschehen konnte? Denn wenn es so war, war diese Stadt verlorener als Johann befürchtet hatte und er war bei seiner Einschätzung weiß Gott nicht zimperlich gewesen. Und war es mit Vangelikas Wunsch genauso gelaufen, hier, in dieser Höllengrube? Die Vorstellung war entsetzlich. Wünsche, die anderer Leute Leben bestimmt hatten – rausgeschmissen für einen billigen Rausch. Übergeben mit verbindlichstem Handschlag an Gecken wie diesen blonden Jüngling, der vom Leben noch nichts verstand, aber sich allerselbstverständlichst das anderer Leute aneignete.