poelchau

An Arbeit war nicht zu denken. Egal, ob er die Augen offen hatte oder geschlossen, er sah immer nur Viktorias Gesicht. In vielen winzigen Details zog es an ihm vorbei. Lächelnd, mit vorwitziger Stirnlocke, die neugierigen Augen voll von einer Leidenschaft, die ihn ergriff wie einen Schwersichtigen, der zum ersten Mal klare Linien und Kanten wahrnahm.

„Ich muss arbeiten“, sagte er sich, versank aber gleich wieder in der Erinnerung an den Kuss, der sich in seiner Vorstellung bereits zu etwas Größerem verwandelt hatte als er in der Realität gewesen war. Er hatte eine romantisierende Anpassung durchlaufen und war nun wesentlich inniger und weniger tölpelhaft. Seine Fantasie war der Wirklichkeit überlegen. Die Wirklichkeit ließ sich allerdings nur schwer aussperren. Irgendwann klopfte sie an seine Tür und erinnerte ihn an seine Pflichten.

„Ich muss arbeiten“, murmelte er wieder und riss sich gewaltvoll aus seinen Träumereien. Schlussendlich ging er doch ins Theatercafé. In der Stille seines Zimmers konnte er sich nicht disziplinieren. Gerede hin oder her, er wusste ja, er konnte nirgends so gut schreiben wie im Café. Meistens saß er am selben Platz, mit dem Rücken zur Wand und dem Gesicht zum Eingang. Als er dort war, kam er überraschend gut voran. Vielleicht hatte Viktoria ihn beflügelt. Der Kuss der Muse führte seine Hand. Ausgerechnet Fritz Poelchaus Stimme brachte sie wieder zum Verharren.

„Herr Schriftsteller!“

Johann hatte die Poelchaus am Nebentisch nicht bemerkt. Da saßen die Geschwister und starrten ihn an. Als er fragend den Kopf hob, winkte Fritz ihn zu sich. Die Handbewegung, die er machte, war eine, mit der man Personal befehligte.

Johann überlegte, ihn zu ignorieren. Aber seine Neugier überwog. Er stand auf, sammelte sein Buch ein, in das er mit der Hand vorschrieb, und ging zum Nachbartisch.

Der Schriftsteller. Schon wieder“, grüßte Fritz Poelchau, als wäre Johann derjenige gewesen, der ihn gerufen hatte und Johann verbeugte sich wie beim letzten Mal. „Was kritzeln Sie da eigentlich immer?“

Nur Kritzeleien.“ Auf das joviale Gefrage des Unternehmers nicht aufrichtig eingehend, warf er dessen Schwester einen verschmitzten Blick zu. Er hatte geglaubt, sie wäre ein sicherer Fluchtpunkt, zu uninteressiert an seiner Anwesenheit, als dass er sich mit Reaktionen auf seine Antwort hätte auseinandersetzen müssen. Er war überrascht, festzustellen, dass sie ihn direkt ansah. Johann fürchtete sich nicht vor ihrem bösen Gesicht. Er war heute allen Frauen gewachsen. Viktoria Parheim hatte ihn geküsst, das hatte ihm die Goldmedaille verliehen, was sollte ihn also das Desinteresse Anna Poelchaus verunsichern? Allerdings war ihr Gesicht gar nicht böse. Als er ein zweites Mal hinsah, fiel ihm auf, dass sie nur das Träumerische behalten hatte. Was sie normalerweise garstig aussehen ließ, war von einem entzückt fragenden Ausdruck abgelöst worden. Fand sie es lustig, dass Johann ihrem Bruder eine ernsthafte Antwort verwehrt hatte? Vielleicht wusste sie es zu schätzen, einem zu begegnen, der vor den Poelchaus nicht den Steigbügelhalter spielte.

Ja, das glaube ich.“ Fritz interessierte sich nicht für Johanns Antwort. Er hatte nicht einmal zugehört. „Und ich brauche so einen Kritzler wie Sie. Haben Sie nicht Lust, mich zu unterstützen?“

Wobei?“, fragte Johann mit einer Mischung aus Ablehnung, Wunder und Schmeichel.

Ich brauche Sie zum Schreiben einer Broschüre, die, ganz gezielt, kontrolliert gestreut, bestimmte Personen über eine neue Art des Handelns informieren soll.“

Der Unternehmer lehnte sich, die Stimme gesenkt, angedeutet über den Tisch und sah ihm aus verengten Augen mit unverkennbarem Haifischlächeln ins Gesicht. Sofort gewann Johann Gewissheit, dass er selbst nur ein kleiner Fisch war, der vor dem Jagdtrieb des anderen nicht entkommen konnte. Er wartete nur so darauf, dass Poelchau hochschnappte und ihn verschluckte.

Ich fürchte, ich verstehe nicht“, entgegnete er dem gefährlichen Lächeln so höflich wie er konnte.

Anna Poelchau sah ihn immer noch an.

„Sie verstehen mich schon.“ Da war Müdigkeit in den Augen ihres Bruders. Und etwas Getriebenes, für das Johann kein anderer Begriff einfiel als unheimlich, obwohl das auch nicht das richtige Wort war. Der Unternehmer umfasste das Bierglas, das vor ihm stand. „Wir haben uns doch vor einer Weile gesprochen. Sie wissen Bescheid, dass eine neue Zeit angebrochen ist. Es gibt andere Nachfragen als vorher. Mehr Nachfrage als Angebot.“

Fritz musste Johann für einen Schwächling halten, oder war er sich seiner Sache so sicher, dass er sich vor niemandem fürchtete? Warum sonst sollte er sich so vertraulich mit ihm unterhalten? Poelchau wusste, dass der Schriftsteller nichts gegen ihn ausrichten konnte. Oder hatte Viktoria ihn erwähnt, so, wie sie vor ihm über Fritz gesprochen hatte? Viktoria. Konnte dieser unangenehme Unternehmer ihm vielleicht helfen, sie leichter zu erreichen? Wenn er mit Poelchau Geschäfte machte, konnte er sie öfter sehen? Die beiden waren Freunde. Andererseits brauchte Johann den anderen nicht mehr. Viktoria hatte ihn geküsst. Sie hatte ihm gesagt, dass sie ihn liebte. Sein Herz zuckte schmerzhaft in seiner Brust. Warum hatte er vorher nicht darüber nachgedacht? All seine Gedanken waren um den Kuss gekreist. Aber sie hatte von Liebe gesprochen. Und Verachtung. Dann war sie fortgelaufen. Was hatte das bloß zu bedeuten? Er war noch verwirrt und abgelenkt von seinen Überlegungen, die ihn überfallartig überkommen hatten, so wie es ihm manchmal in den unpassendsten Situationen passierte, als Johann klar wurde, dass beide Poelchaus ihn anstarrten. Ihm schlug die Erkenntnis gegen den Kopf, dass Fritz ihn irgendwas gefragt hatte.

„Was?“, fragte er und richtete sich im Stand auf. Er verbesserte sich zu einem: „Wie bitte?“

„Es ist an der Zeit, schnelle Entscheidungen zu treffen“, fuhr Poelchau fort. Er wiederholte seine Frage nicht. Wahrscheinlich ging er nicht davon aus, dass jemand die Stirn besaß, ihm nicht zuzuhören. Anna gaffte Johann aus trüben Augen entgegen, ohne sich am Gespräch zu beteiligen.

„Also wie war Ihr Name? Zimmer?“ Fritz trank einen Schluck Bier. Anschließend verzog er den Mund, als wäre es Medizin gewesen.

„Johann Zimmer.“

„Gut. Zimmer. Bringen Sie es für mich auf den Punkt. Fesseln Sie die Leute. Sie kommen die Tage vorbei und wir besprechen die Details. Heute wird es nichts mehr. Halten Sie sich frei, ich gebe Ihnen Bescheid.“

Die beiläufige Selbstverständlichkeit, mit der Fritz Poelchau wildfremde Menschen herumkommandierte, war atemberaubend. Der Teil Johanns, der ihn nicht dafür hasste, bewunderte ihn.

„Ehrlich gesagt fühle ich mich nicht wohl dabei.“ Johann hasste auch sich selbst dafür, auf Poelchau hereinzufallen. Der Unternehmer spielte eine Realität vor, in der es beleidigend war, sich seinen Ideen zu widersetzen. Er spielte es so gut, dass sein Gegenüber es ungewollt annahm. Als er ablehnte, kam er sich vor, als mache er sich schuldig. Umso mehr, weil Anna Poelchau immer noch nicht die Augen von ihm nahm. Es stand absolut nicht zur Debatte, dass er Fritz half. Trotzdem wand er sich in der Zange, in die die Geschwister ihn mit ihrer Art und ihren Blicken nahmen.

„Lehnen Sie nicht gleich ab“, schlug Poelchau vor. Seine dunklen Brauen verzogen sich. Sein Lächeln war beunruhigend. Eigentlich machte er keinen Vorschlag. Er traf einen Beschluss. „Ich melde mich bei Ihnen.“

Plötzlich lächelte Anna Johann an. Ihr Lächeln unterschied sich vollkommen von dem ihres Bruders. Es unterschied sich auch vollkommen von ihrem Gesicht, so wie man es kannte. Ihr reizloser Mund war auf einmal entzückend. Er strahlte Kindlichkeit und seltene Frische aus und eine innere Stimme sagte jedem, der sie ansah, dass man sie nicht verletzen durfte. Ihre Augen waren vom Leben enttäuscht. Dieses Lächeln, mit dem sie Johann überfiel, trug eine Spur Hoffnung hinein. Er brachte es nicht über sich, diesen Ausdruck zu zerschlagen, selbst wenn alle Vernunft dagegen sprach, dass ihre Hoffnung mit ihm zusammenhing. Höchstens war es Kalkül; eine diabolische Methode der Geschwister, sich gegenseitig zuzuarbeiten. Johann wollte ablehnen, sofort, alles in ihm schrie danach. Im selben Moment erwiderte er Annas Blick und rätselte, was es mit Fräulein Poelchau auf sich hatte.

„Sehr gut.“ Fritz klatschte in die Hände. Sein nächstes Klatschen traf Johanns Schulter. Er hatte das Zögern des Schriftstellers genutzt, sein Bier auszutrinken, und war aufgestanden. „Befruchten Sie Ihre Gedanken. Schriftsteller tun das gern mit Rotwein, hab ich mir sagen lassen. Wir reden noch. Anna.“

Seine Schwester stand auf Zuruf wie dressiert.

„Einen schönen Abend, Herr Zimmer“, wünschte sie.

Johann hörte es zuerst nicht. Es wurde ihm erst im Nachhinein klar. Er war vor den Kopf gestoßen, weil Poelchau ihn mit seinen Abschiedsworten auch etwas Geld in die Hand gedrückt hatte, das er angenommen hatte, weil er von einem Handschlag ausgegangen war. Das ging zu weit.

„Sie verstehen mich falsch.“ Johann überging Anna. Er machte einen Schritt hinter Fritz her, der sich, der Tür zugedreht, den Mantel richtete. „Ich will Ihr Geld nicht. Ich habe nicht vor-„

„Jetzt schlagen Sie meine Einladung nicht aus. Fühlen Sie sich nicht gleich gekauft. Trinken Sie einen auf mich und denken Sie drüber nach.“

Es gab nichts zu überlegen. Auf der anderen Seite musste er Poelchau hier und jetzt keine Szene machen. Der Unternehmer, arrogant wie er war, hatte sich schon abgewandt. Johann wollte ihm weder nachlaufen noch hinter ihm her schreien. Er konnte das Geld diskret zurückgeben, wenn er diesem Wichtigtuer eine Absage erteilte.

Viktoria hatte Johann gewissermaßen vorgewarnt. Sie hatte durchklingen lassen, dass Poelchau nicht aufgab, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Sein kurzer Anflug von Wut löste sich in Genugtuung auf, als er sich sagte, dass Fritz der Große wohl auf sie beide verzichten musste. Auf Viktoria und auf ihn. Und was jeden von ihnen mit Poelchau entzweite, brachte sie einander näher. Anna Poelchau stand noch an der Tür, durch die ihr Bruder das Theatercafé gerade verlassen hatte, als sie sich nochmal umwandte. Diesmal lächelte sie nicht. Sie durchbohrte Johann mit ihren trüben Augen. Mittlerweile war ihr Gesicht wieder garstig wie sonst. Sie winkte ihm zaghaft, bevor sie ging.

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